Sonntag, 22. Februar 2015

Warum Kunden im Jahr 2020 glücklicher sein werden

Im Jahr 2020 dürfte der Anteil der Online-Käufe im Handel 30 Prozent erreichen – und jedes zehnte Fachgeschäft wird bis dahin wohl schließen müssen. Die Kunden werden trotzdem zufriedener sein.
Da kommt er, der Paketkopter. Piept, brummt und blinkt, landet, stellt den Karton ab und ist auch schon wieder weg. Pünktlich wie auch sonst immer liefert er diesmal Schuhe ab, die Juliane K. sich heute hat fertigen lassen.
Gemütlich war sie am Vormittag durch die Münchener City geschlendert und hatte in einem der wenigen Schaufenster das Modell entdeckt, das sie schon immer toll fand.
Leider war hinter dem Schaufenster kein Laden mehr, eigentlich war es nur noch eine Art Vitrine. Kein Problem. Schnell mit dem Handy das Objekt der Begierde fotografiert, Hersteller und Ware sind umgehend identifiziert.
Nach ein paar Änderungen an Farbe, Größe und Accessoires, eingegeben auf dem Bildschirm, projiziert das Smartphone das Ergebnis fotorealistisch in 3-D-Darstellung auf die Schaufensterscheibe. Sie drückt die Okay-Taste.
Sofort kommt die Antwort: Die Schuhe werden in ein paar Stunden verfügbar sein wie gewünscht: ein bisschen dunkler und mit schmaler Schnalle, Größe 36. Bestellen, bezahlen, Lieferadresse für die Zustellmaschine und so weiter – darum muss sie sich nicht kümmern.

Der Paketkopter fliegt bereits

Das übernehmen die Systeme, die sowieso alle relevanten Daten gespeichert haben. Die Szene spielt im Jahr – sagen wir – 2030. Kundin Juliane K. ist frei erfunden, der Paketkopter nicht.
Er fliegt längst. Die Logistikfirma DHL nutzt den Begriff als freundlicheres Wort für "Drohne", um ihre Experimente im unbemannten Lufttransport zu beschreiben.Amazon und Google experimentieren ebenfalls damit.
Der Paketkopter ist das Wetterleuchten einer Zukunft im Einzelhandel, die sich erst in Umrissen abzeichnet. Onlinehandel, neue Logistik-Konzepte und flexible Produktionsmethoden gehen eine Verbindung ein und schaffen innovative Möglichkeiten.
Das meiste davon ist für die Kunden erfreulich, für den Handel weniger. 65 Jahre nach der Eröffnung des ersten Selbstbedienungsladens im Hamburger Stadtteil St. Georg steht der Einzelhandel erneut vor einer umstürzenden Entwicklung.
"Der digitale Wandel ist das größte Thema, das wir in den letzten Jahrzehnten hatten", sagt Stefan Genth, Chef des Handelsverbands Deutschland (HDE).
Hatten die Leute aus St. Georg im September 1949 noch Angst, man würde sie des Diebstahls zeihen, wenn sie im "Freiwahl-Laden" – so hieß das damals – einfach Mehl und Zucker aus dem Regal nehmen, so nehmen die Kunden den Wandel diesmal geradezu lustvoll an. Berührungsängste zu Onlineläden gibt es kaum. Im Gegenteil: E-Commerce ist derzeit das einzige, was wächst in derEinzelhandelsbranche. Im laufenden Jahr voraussichtlich allein um 17 Prozent.

Fachhändler gehen pleite

Das geht so weiter. Schon bis 2020 werden Onlinegeschäfte nach HDE-Einschätzung 30 Prozent Marktanteil erreichen – eine Vervierfachung gegenüber dem heutigen Stand.
Klar, dass das nicht ohne Folgen bleiben kann. Nach einer Prognose des IFH-Instituts für Handelsforschung in Köln werden schon in den kommenden sechs Jahren voraussichtlich rund 50.000 traditionelle Händler vom Markt verschwinden, überwiegend Fachhändler und Einzelkämpfer.
Damit ist jeder zehnte der heute existierenden Läden bedroht – mindestens, denn das Szenario liegt eher auf der konservativen Seite. Andere Experten gehen von bis zu 78.000 Geschäften weniger aus.
"Die Innenstädte schwächeln", sagt Genth, und er fügt hinzu: "Das ist nicht nur ein Thema der Klein- und Mittelstädte, sondern auch der Top-Lagen." Der Onlinetrend, der viele Fachhändler quält, sorgt in anderen Teilen der Branche für eine Goldgräberstimmung.
Kein Zufall, dass das Onlinemodehaus Zalando der erste Börsengang eines Handelsunternehmens in Deutschland seit Jahrzehnten ist. Der Möbelanbieter Westwing könnte folgen.

Lieferhelden mit neuem Kapital

Der Lebensmittellieferant "Lieferhelden" hat sich 350 Millionen Dollar frisches Eigenkapital bei Investoren besorgt. Wettbewerber Hellofresh hat einen zweistelligen Millionenbetrag bei Investoren eingesammelt. Die alle werden den quicklebendigen Dinosaurier der Branche, Amazon, nicht mehr einholen.
Auf der Gewinnerseite stehen auch die Kunden. Sie werden, wie Juliane K., von einer noch nie dagewesenen Preistransparenz im Netz und von einem harten Wettbewerb fast ohne räumliche Beschränkungen profitieren.
Und sie werden neue Techniken wie selbstverständlich nutzen, so wie Julianes ebenfalls erfundener Opa. Ältere Menschen – und nicht nur die – werden vielleicht auf intelligente Einkaufswagen zurückgreifen.
Auch die gibt es schon, jedenfalls in Ansätzen. Gerrit Kahl, Laborleiter des Forschungszentrums für künstliche Intelligenz in Kaiserslautern, hat sich so etwas ausgedacht.
Er stellte das Projekt dieser Tage in Berlin vor. "Der folgt einem wie ein Hund", sagte er über den Prototypen, der aber noch mehr kann.
So hat sich der Wagen den digitalen Einkaufszettel gemerkt, den Julianes Opa zu Hause in sein Tablet eingegeben hat und der dann über die Cloud übermittelt wurde. So sorgt das Vehikel dafür, dass nichts vergessen wird.
Es weiß außerdem, in welchem Regal Müsli, frische Milch oder Sprudel stehen. Über ein Inhouse-Navigationssystem lotst es den alten Herrn an die richtige Stelle.

Megatrend "Urban Farming"

Zukunftsmusik, gewiss, aber realistische. Neue Entwicklungen, die das Zeug zum Megatrend haben, entspringe aber durchaus nicht immer den Forschungslabors. Mindestens ebenso revolutionär können Änderungen im Lifestyle auf den Handel wirken.
"Urban Farming" ist ein solcher Trend mit Potenzial für Jahrzehnte, wie Joachim Zentes beobachtet. "Gemüse vom Dach, das im Erdgeschoss gegessen wird", fasst der Leiter des Instituts für Handel und internationales Marketing der Saar-Universität das Prinzip zusammen.
In einen generellen Abgesang auf die klassischen Geschäfte will Zentes nicht einstimmen. "Der stationäre Handel wird immer die Oberhand behalten", glaubt auch Genth.
Aber die Händler müssten sich auf immer schnellere Umschwünge in Technik und Lebenswandel der Kunden einstellen. Gesundheit, Verantwortung und Regionalität beeinflussten beispielsweise Kaufentscheidungen immer stärker, ebenso Motive wie Erlebnis und Genuss.
Ketten wie "Veganz" griffen das ebenso auf wie Discounter, die vegane Waren ins Sortiment aufnehmen, beobachtet Zentes. Traditionelle Familienbetriebe seien dem Umbruch zudem keinesfalls chancenlos ausgeliefert, unterstreicht HDE-Vormann Genth.
Beispiele für erfolgreiche Anpassung gebe es reichlich: Gut geführte Parfümerien, die sich mit einem Dutzend Geschäften als lokale Marktführer etabliert hätten, ein klassischer Schuhhändler, der 80 Läden unter unterschiedlichen Namen betreibe.

Zündende Idee gesucht

Oft helfe eine zündende Idee, wie sie zum Beispiel der Besitzer eines kleinen Kaufhauses für Hausrat, Porzellan und Elektrokleingeräte hatte.
Wahr ist aber auch: 70 Prozent der deutschen Handelsfirmen machen keine Onlineangebote, geschweige ein nennenswertes Geschäft im Wachstumssegment. Dabei sind die Hürden oft gar nicht so hoch. Händler, die einer Genossenschaft oder Einkaufsgemeinschaft angehörten, könnten den Sprung ins Netz leicht gemeinsam schaffen, meint Genth.
Eine andere Möglichkeit seien regionale Plattformen wie die App "Simply Local", die es Läden jeder Größenordnung erlaube, sich vor Ort zu vernetzen.
Kunden können damit laut HDE herausfinden, ob ein gesuchtes Produkt in einem bestimmten Umkreis vorrätig ist, was es kostet. Sie können es reservieren lassen und selbst abholen oder es sich zusenden lassen.
Umgekehrt gilt, dass auch die E-Commerce-Firmen keineswegs auf der sicheren Seite sind. Gut möglich, dass die Onlinerevolution auf die Dauer ihre Kinder frisst.
So weist die Beratungsfirma Mücke Sturm auf die extrem niedrigen Handelsmargen im Internet-Geschäft hin – Kehrseite der für die Kunden so erfreulichen Preistransparenz.

Die "Pure Player" werden nicht überleben

Schon deshalb werde es zu einer Auslese der Schwächeren kommen, prophezeien die Berater: "Es ist zu erwarten, dass in den meisten Branchen nur Platz für zwei große Player ist", heißt es in einer Analyse. Im Zweifelsfall laute die Formel schlicht: Amazon plus eins.
Daneben sei im Markt der "Pure Player", also der reinen Onlinehändler, langfristig vielleicht noch Platz für den einen oder anderen Nischenanbieter. Das brutale Fazit der Experten: "90 Prozent der heute am Markt aktiven Pure Player werden nicht überleben."
Der Blick in Zukunft des Handels ist derzeit so spannend wie seit der Erfindung des Selbstbedienungsladens nicht mehr: Ein Umbruch hat begonnen, der das Verhalten der Verbraucher, die Strukturen und Techniken der Branche einreißen und neu aufbauen wird.
Vielversprechend in mancherlei Hinsicht, bedrohlich in anderer. Eines aber, da ist sich Handelsexperte Joachim Zentes sicher, wird sich auch im Jahr 2030 Jahren nicht geändert haben: Der Drang der Deutschen, Qualität möglichst billig einzukaufen, wird bleiben. "Preisempfindlichkeit ist ein altes germanischen Gen", scherzt der Saarbrücker Professor.
"So, wie wir früher mit der Keule aufeinander eingeschlagen haben, tun wir das heute mit den Preisen." Komme, was da mag.